Maria Bätge:

DAS EXPERIMENT von Günter Seuren

Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein Mann, der bewusst anders zu leben versucht als die Masse. "Ich gehe rückwärts, weil ich nicht länger vorwärts gehen will", sagt die Hauptfigur und macht damit deutlich, dass hinter der scheinbaren Marotte eine Überlegung steht, ein Wille und ein fester Entschluss.

"Wenn man immer nur vorwärts geht, verengt sich der Weg", erläutert der Rückwärtsgänger einem zufälligen Wegbegleiter. "Als ich anfing rückwärts zu gehen, sah ich die übergangenen und übersehenen Dinge, ich hörte das Überhörte." Die rückwärts gewandte Sicht der Dinge erlaubt eine intensivere und genauere Wahrnehmung, die den nach vorn hetzenden Menschen verschlossen bleibt. Wer immer nur voller Hast im breiten Strom der Masse mitschwimmt, dem ist nur noch eine eingeschränkte Wahrnehmung und ein blockiertes Denken möglich, so die Botschaft des Experimentators.

"Als ich das erste Mal rückwärts ging, lebte ich auf", erzählt die Hauptfigur der Geschichte. An dieser Stelle wird ganz deutlich, dass der Mann erst durch die entgegengesetzte Denkweise zu sich selbst findet und die darin freigesetzte Sensibilität genießt. Aus dieser Perspektive erscheinen die Sinne der Menschen abgestumpft. Nur ihre Körper leben noch, der Geist wird von träger Masse bestimmt und ist keiner selbstständigen und kritischen Regung mehr fähig.

Der Rückwärtsgänger versteht sich als Verkörperung einer Alternative: Es geht nicht darum, ein schrulliges Anderssein einsam und für sich selbst auszuleben, sondern andere Menschen aus dem gleichförmigen Gedankenstrom zu reißen. Die philosophische Dimension der anderen Gangart kommt in Gestalt eines skurrilen Einfalls zum Vorschein, wie denn Frieden unter den Völkern erreicht werden könnte: Durch unblutige Kampfrituale, bei denen die Gegner so lange ihre Streiche und Hiebe in purer Luft ausführen, bis ein Kämpfer nach dem anderen erschöpft zu Boden sinkt. Im Muskelkater feiert die menschliche Natur schließlich ihren Sieg über Hass und Nachbarschaftsstreit. "Ein brauchbares Ventil für Naturvölker", pflichtet der Beobachter des Rückwärts-Projektes bei, bezweifelt allerdings seine Anwendbarkeit in hoch zivilisierten Gemeinwesen.

Obwohl der Mann seine eigenwillige Gangart immer besser ausfeilt und schließlich schneller unterwegs ist als der konventionelle Vorwärtsdränger, erscheint seine Lebenshaltung wesentlich anstrengender. Wer gegen den Strom schwimmt, der muss mit jeder Menge Gegendruck fertig werden. Im Text wird dieser Befund an folgenden Stellen unterstrichen: Der Experimentierer ist "bleich vor Anstrengung", hat "eine vom Wind gerötete Nase", wird gebeutelt durch heftige Böen von vorn, die andere Fußgänger lediglich als Brise im Rücken empfinden.



Der Rückwärtsgänger muss seine ganze Kraft aufwenden, um auf seinem eigenen Weg zu bleiben und sich nicht mit der Masse Mensch forttreiben zu lassen. Ironie des Schicksals: Ausgerechnet auf dem Höhepunkt seiner Kunstfertigkeit wird der Rückwärtsgänger von einem Auto angefahren und stirbt auf dem Asphalt. In dieser schicksalhaften Wendung wird deutlich, dass anders denkende und anders handelnde Menschen nicht mit Rücksicht im Hauptstrom ("Mainstream") rechnen dürfen. Sie kommen im wahrsten Sinne des Wortes schneller unter die Räder. Und auch die Frage der Verantwortung ist reflexartig schnell beantwortet, ohne dass sich jemand bemüßigt fühlen müsste, groß nachzudenken. "Der Wagen hat keine Schuld, dass kann ich bezeugen. [...] Er muss betrunken sein."

Die Menschen als Beobachter eines Unfalls wollen oder können gar nicht daran denken, dass sie selbst für den Tod des Außenseiters verantwortlich sind. Er ist am automobilen Tempo der Gesellschaft gescheitert. Das Misslingen des Experimentes "Rückwärtsgang" kann als Modell eines Scheiterns gelten, angesichts dessen sich die Leser der Geschichte mit der Aufforderung konfrontiert sehen, inne zu halten und nachzudenken über Begleiterscheinungen eines ungestümen Vorwärtsdrangs, der Verschnaufpausen, Phasen der Muße und Meditation, nicht mehr zulässt.

Zur heilsamen Irritation trägt vor allem die Pointe bei, die eine Leseerwartung torpediert. "Das ist heute schon der Vierte, der das versucht", berichtet der Polizist als Hüter der Ordnung und meint die um sich greifende Unsitte rückwärts gewandter Bewegung. "Was ist nur mit den Leuten los?", fragt er verunsichert.

Die Story entwirft die Modellvorstellung einer steigenden Zahl sensibel gewordener Menschen, die mit kalkuliertem Risiko den Rückwärtsgang einlegen. Ein Ärgernis für die Stürmer und Dränger auf der Überholspur des Lebens. Eine Chance für Leute, die sich vom Leben mehr versprechen als ein sinnentleertes Hetzen von Station zu Station, an dessen Ende ohnehin nur ein großes Fragezeichen steht. Warum? Wofür?

Die Minuten, die der Vorwärtsdränger auf dem raschen Marsch von Zielpunkt zu Zielpunkt gewinnt, verschwinden unterwegs. Wie das Wasser aus einem löchrigen Schlauch. Unvorstellbar, dass der Gehetzte an den Stationen zwischendurch einmal innehalten könnte, um Amseln oder Tauben rufen zu hören oder der originellen Erklärung zu lauschen, die ein alternativ denkender Kopf für eine Lebensvariante präsentiert, die antritt gegen das Motto: "Keine Zeit, keine Zeit. Zeit ist Geld. Stillstand ist Rückschritt."

Derart getrieben, droht der Mensch den feinen Sinn für den Augenblick und das Erlebnis von Glücksmomenten zu verlieren.