Über die Entfremdung des modernen Menschen
Ist das Individuum selbst Schuld
an der Unterdrückung? Von Maria Bätge
Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“ handelt von einem Mann, der um
Eintritt in das Gesetz bittet, von dem Türhüter aber abgewiesen wird und
so bis zum Tod auf einem Hocker auf die Erlaubnis, eintreten zu können, wartet. Dem Leser stellt sich folglich die Frage, warum der Mann nicht
einfach eintritt, sondern sein Leben Unter dem Aspekt der Umwälzung der Gesellschaft zur Zeit der Jahrhundertwende bietet sich vorerst der gesellschaftskritische Ansatz als Deutungsperspektive an. Der Torhüter des Gesetzes könnte die Obrigkeit, die Staatsautorität und den in der modernen Gesellschaft vorherrschenden Bürokratismus darstellen. Der Mann vom Lande, also ein gewöhnlicher Mensch, möchte von den Behörden über das Gesetz und somit vielleicht über die Gerechtigkeit aufgeklärt werden. Die Obrigkeit gewährt keinen Durchblick, erwähnt jedoch ausdrücklich die Möglichkeit trotz des Verbotes einzutreten, was der einfache Mann ablehnt, weil er die Obrigkeit als Autorität vollständig anerkennt und seine Moral es ihm nicht erlaubt, gegen eine Verordnung zu verstoßen. Der Wartende begehrt nicht auf, setzt sich auf den Schemel, schenkt der Drohung des Vertreters des Gesetzes Glauben, dass es unzählige weitere Tore mit noch mächtigeren Hütern gibt, lässt sich von der Fassade, der äußeren Erscheinung des ersten Hüters bereits einschüchtern und hofft auf offizielle Erlaubnis. Kafka beschreibt die Behörden als den Menschen hinhaltende und unterdrückende Einrichtungen, die dem Individuum unnütze Fragen stellen, um letztlich doch immer wieder die gleichen Antworten zu liefern, die keine Erkenntnis oder Aufklärung über die Gerechtigkeit geben. Zudem sind die Vertreter dieser Variante von Gerechtigkeit selbst korrupt, lassen sich bestechen und unterdrücken willkürlich weiter. An dieser Stelle stellt der Leser vielleicht eine Parallele zu Kafkas Biographie fest. Kafka entwickelte in seiner Kindheit gegenüber der Autorität ein gestörtes Verhältnis. Auf der einen Seite erkannte er die Autorität seines Vaters bedingungslos an und litt auf der anderen Seite unter dem Gefühl, den Erwartungen nicht genügen zu können. Dies führte aber nicht zu einer Protesthaltung gegenüber dem Vater, sondern verwandelte sich in Selbsthass und Minderwertigkeitskomplexe. Ein ähnliches Phänomen taucht auch bei dem Mann vom Lande auf: Dieser steigert sich so in die Vorstellung der Übermacht des Torhüters hinein, dass er ihn als einziges immer größer werdendes Hindernis wahrnimmt, welches er anfangs noch mit allen Mitteln umgehen möchte, dabei allerdings an der Korruption und Willkür des Systems scheitert. Schließlich sieht er sich außerstande, diese Hürde zu überwinden, und fühlt sich so ohnmächtig wie viele Menschen zu Anfang des Jahrhunderts. Von dem Kampf mit der Obrigkeit völlig zermürbt und entkräftet stirbt der Wartende, ohne sein Ziel erreicht zu haben. Kafka meinte hier wahrscheinlich nicht den realen Tod, sondern den Tod des Menschen als Individuum mit einem eigenen, von der Obrigkeit abweichenden Willen; den Menschen als sich selbst entfremdete Maschine der modernen Gesellschaft. Bevor das Individuum stirbt, die Macht der Obrigkeit aber gesichert und der Mann ihr bereits vollständig ausgeliefert ist, wird offenbart, dass der Eingang nur für ihn bestimmt war und von daher nun geschlossen werden kann. Diese Zuspitzung am Schluss lässt sich gut mit dem metaphysischen Ansatz erklären, weil sonst die Willkür der Obrigkeit und die Machtlosigkeit des Individuums nur noch einmal unterstrichen würde, der Leser aber keine neue Erkenntnis erlangte. Auf die Möglichkeit dieser Deutung weist auch der im Text angedeutete Glanz hin, der im Dunkel aus dem Tor des Gesetzes bricht. Der einfache Mann strebt und sehnt sich, ohne den genauen Inhalt zu kennen, nach dem Gesetz. Es scheint seine Bestimmung oder Lebensaufgabe zu sein, die er jedoch nie im Leben erfüllen kann, weil er das Ziel und den Weg dahin nicht erkannt hat. Erst am Lebensende wird ihm der Glanz des Gesetzes offenbart und das Individuum erkennt seine Bestimmung, nach der es sich das ganze Leben gesehnt hat. Dann aber ist es zu spät, um diesen Weg noch einzuschlagen und die Aufgabe zu erfüllen. Kafka schafft unter diesem metaphysischen Gesichtspunkt ein Symbol für das Lebensgefühl der Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Menschen waren verunsichert, alle bisherigen Werte mussten einer Aufbruchstimmung Platz machen, das Ziel aber blieb unklar. So sehnten sich die Menschen nach einer festen Ordnung, die sie, wie dieser Mann, vielleicht im Gesetz oder einer Religion suchten. Es erscheint mir nicht sinnvoll, nun zwischen den verschiedenen Ansätzen abzuwägen, weil sich jeder Ansatz auf einen anderen Bereich der Wirklichkeit bezieht, die alle gleichberechtigt nebeneinander existieren. Kafka schafft also ein Bild für die moderne Gesellschaft, die Schwierigkeiten des Individuums und den Zeitgeist. Um also ein reales und vollständiges Bild der Wirklichkeit der Jahrhundertwende zu erhalten, sollten alle Ansätze zusammenspielen. |