Blick durchs Schlüsselloch

Aus Bettina von Arnims heimlichen Aufzeichnungen    

Es war in der Abenddämmerung im heißen Augustmonat, in Teplitz, er [Goethe] saß am offenen Fenster, ich stand vor ihm und hielt ihn umhalst, und mein Blick, wie ein Pfeil scharf ihm ins Auge gedrückt, blieb drin haften, bohrte sich tiefer und tiefer ein. Vielleicht weil er's nicht länger ertragen mochte, frug er, ob mir nicht heiß sei und ob ich nicht wolle, dass mich die Kühlung anwehe, ich nickte, so sag' er:
"Mache doch den Busen frei, dass ihm die Abendluft zugute komme."
Und da er sah, dass ich nichts dagegen sagte, obschon ich rot ward, so öffnete er meine Kleidung; er sah mich an und sagte:
"Das Abendrot hat sich auf deine Wangen eingebrennt", und dann küsste er mich auf die Brust und senkte die Stirne darauf. - "Kein Wunder," sagte ich, "meine Sonne geht mir ja im eigenen Busen unter."
Er sah mich an, lang, und waren beide still. - Er fragt': "Hat dir noch nie jemand den Busen berührt?" - "Nein", sagt ich, "mir selbst ist so fremd, dass du mich anrührst." - Da drückte er viele, viele und heftige Küsse mir auf den Hals, mir war bang, er solle mich loslassen, und es war doch so gewaltig schön, ich musste lächeln in der Angst und war doch ganz freudig, dass mir's galt, diese zuckenden Lippen und dies heimliche Atemsuchen, und wie der Blitz war's, der mich erschüttere, und meine Haare, die von Natur sich krausen, hingen herunter, er wollte Ruhe wieder, ich sah es recht in seinem Gesicht, wie er sich fasste, und sammelte mein zerstreutes Haar in der Hand, und war immer wieder still, wie wenn er hatte sprechen wollen und hatte nicht Atem. Dann sagt er so leise erst:
"Du bist wie das Gewitter, deine Haare regnen, deine Lippen wetterleuchten, und deine Augen donnern."  Da fand ich auch meine Stimme: "Und du bist wie Zeus, du winkest mit den Brauen, und der Olympus erzittert." - "Wenn du künftig abends dich auskleidest und die Sterne leuchten dir in den Busen wie jetzt, willst du da meiner Küsse gedenken?" - "Ja!" "Und willst denken, dass ich wie die Sterne ohne Zahl tausendfach das Siegel meiner Liebe dir in den Busen drücken möcht'?" - "Ja!" - "Und willst denken, dass es Unvergessliches ist, Unsterbliches, was ich in dir erleben, willst du das glauben?" - "Ja!" sagt' ich, "ich will's glauben!" - Er ... ja wie war's doch? - Er seufzte so tief und lehnte den Kopf an mich und: "Verzeih mir's", sagte er, "dass ich so stark nicht bin", und sah zu mir hinauf und drückte mir den Busen fest.

[...]
Er lachte laut auf, ließ mich los und rief: "So bändigend, und solche Unschuld - solche Gelassenheit und solche Leidenschaft! - süßes süßes Weib!" Nun muss ich dir sagen, dem ich dies erzähle, wie er diese Worte ausrief, das machte mich taumeln, es schrie in meiner Brust vor Wehtum und Wonne, und meine Seufzer wurden zu Lauten, ich umklammerte ihn fest.

[...]
Ich hab' mir dies Gespräch wohl tausendmal wieder vorgebetet, jeden Abend vor dem Einschlafen erzählte ich es mir wieder und erlebte in Gedanken noch manches, was ich ihm dann am andern Tag schrieb, - aber es war noch nicht alles; - jetzt streckte er die Arme wieder nach mir und sagte: "Komm!" - und zog mich auf's Knie und drückt' meinen Kopf ans Herz und spielt' mit meinem Ohr und lehnte mit der Stirne an meiner Stirne und so lange Zeit, wo ihm Schweißtropfen auf mich niederfielen, erst küsst ich sie auf, dann bekam ich wahrhaftig Durst darnach, und trank sie mit den Lippen auf, die Augenwimpern badetet ich ihm mit meinen Lippen. - Der Schweiß perlte über seinem herrlichen Mund, den er herb geschlossen hielt, er seufzte tief, er ächzte, ich ließ mich nicht stören, ich leckte alle Schweißperlen auf, er legte die Zunge auf die Lippen, ich biss sie ganz leise, ich biss auch in die Lippen, er drückte mich an seine Wangen, und meine Tränen liefen ihm über das Antlitz; er sagte wieder: "Weib! Weib! wenn du wüsstest, wie süß du bist, dann! ja dann erst könntest du's begreifen, wie streng die Fesseln sind, die deine Unschuld mir anlegt, dass ich's nicht vermag, sie zu zerreißen."


Der Text, der sich auf den Aufenthalt in Teplitz 1810 bezieht, liegt in fünf handschriftlichen Fassungen vor und wurde von Bettina nicht veröffentlicht. Bettina wird 1785 geboren, ist also bei der Begegnung mit Goethe 25 Jahre alt; Goethe 1749 geboren, ist zu diesem Zeitpunkt 61 Jahre alt. 1811 heiratet sie Achim von Arnim. Gekürzt aus: Kleßmann, E., Goethe aus der Nahe, S. 142 - 145. Dort unter der Überschrift: Wovon Bettina phantasiert.