Textanalyse einer Episode
  aus dem Walser-Roman "Jagd" von 1988

Explosion am Mittagstisch

In seinem Roman "Jagd" aus dem Jahr 1988 erzählt Autor Martin Walser, wie die Unterhaltung am Mittagstisch der Familie Zürn gründlich schief geht. Die Familienmitglieder (Vater, Mutter und zwei Töchter) stehen unter Stress, die Nerven scheinen bloßzuliegen, und alle scheinen am Vormittag von irgendjemandem beleidigt worden zu sein. Die Mutter merkt an, dass sie die Gesichter der anderen nicht ertragen könne und löst damit ein Streitgespräch mit der 18-jährigen Tochter Julia aus. Die eröffnet ihren Eltern schließlich, dass sie wohl die Schule schmeißen werde oder dass gar noch größere Veränderungen zu erwarten seien, die die Familie nichts angingen. Darauf zieht sich die Mutter wütend in ihr Zimmer zurück; der Vater, die verbitterte Julia und die ratlose Schwester Regina bleiben schweigend zurück.

 

 

Der Dialog lässt sich in zwei große Abschnitte aufteilen, die sich über die Zeilen 1 bis 54 und 54 bis 68 erstrecken. Im ersten steigert sich die Tochter in eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen hinein und macht die Eltern dafür verantwortlich, dass sie eben dieses äußere Erscheinungsbild (Ringe unter den Augen, Bindegewebsschwäche) genetisch weitergegeben haben. Ihr Lamento ist zu verstehen als Antwort auf die Klage der Mutter über "solche Gesichter am Tisch", mit der die Mutter die gespannte Atmosphäre am Mittagstisch brandmarken will und nicht das Aussehen der Familienmitglieder als solches meint. Der zweite Abschnitt präsentiert die Spitze der Eskalation: Die Mutter springt wütend auf und zieht sich Türen knallend in ihr Zimmer zurück.

 

Verschlossene Gesichter
und eine haarige Attacke

Ausgangspunkt der Spannung ist im ersten Abschnitt die Äußerung der Mutter, mit der sie ihr Gefühl des Unwohlseins ausdrückt. Die abgenervten, frustrierten Gesichter um sie herum verderben der Mutter den Spaß am Mittagsmahl; genau das möchte sie ausdrücken, verbunden mit dem Appell an die Tischgenossen, sich doch bitteschön ein wenig zusammenzureißen und sich nicht derart die Laune verhageln zu lassen. Vielleicht wünscht sie sich ein befreiendes Lachen oder ein Stück fröhlicher, unbeschwerter Kommunikation. In diesem Moment aber definiert sie die Beziehung zur Familie so, dass sie sich über die anderen Mitglieder erhebt. Sie nimmt sich das Recht, die Tischgenossen zu kritisieren und ein verändertes Verhalten einzufordern, ohne Rücksicht auf wirkliche Probleme, die sich im Gesichtsausdruck der Anderen spiegeln. Der Tochter Julia gefällt diese Definition nicht; außerdem scheint sie existenzielle Schwierigkeiten zu haben, die sich hinter ihrem offensiven Ausfall gegen die Mutter verbergen. So ignoriert sie die Selbstoffenbarung der Mutter, die an der gespannten Atmosphäre leidet, die in den verschlossenen Gesichtern zum Ausdruck kommt, und nimmt sie zum Ausgangspunkt einer bewussten, auf Äußerlichkeiten gelenkten Fehlinterpretation, indem sie die Botschaft heraushört: "Ich ertrage dein Aussehen nicht."



Auf diese Fehldeutung (naiv-wörtliches Verständnis statt deutender Interpretation) setzt Tochter Julia dann ihr Klagelied übers eigene Aussehen auf, das sie der Mutter nach der gültigen Theorie der Vererbung zur Last legen kann, auch wenn das moralisch völlig unsinnig erscheint: Auch die Mutter kann nichts für ihre Gene. Wahrscheinlich wäre es bei einem einfachen Schlagabtausch geblieben, hätte die Mutter auf die immerhin schlagfertig-witzige Provokation der Tochter: "Ich habe kein anderes (Gesicht)" nicht mit einem "wilden" Blick reagiert.

 

Am Ende knallen die Türen

Die Mutter ärgert sich über den Gesicht-Spruch der Tochter, weil sie sicher ist, dass Julia sehr wohl verstanden hat, worum es ihr geht, und ganz bewusst ein Missverständnis produziert. Hilfe suchend wendet sie sich im Eskalationsprozess des ersten Teils an den Vater, der ihre Kritik teilt ("alle saßen am Tisch wie eine Versammlung von Verdammten"), die entgleisende Kommunikation aber nicht einfangen und die Frustentladung der Tochter nicht bremsen kann. Seine kommunikative Schwäche könnte ein Reflex aufs berufliche Versagen sein, aus dem heraus er die unternehmerische Initiative ganz auf seine Frau abgewälzt hat. Er fühlt sich dem Leben gegenüber einfach nicht mehr stark genug. So führt die selbstzerstörerische Offensive der Tochter ungebremst bis zur Androhung von Konsequenzen, deren Tragweite im versiegenden Halbsatz rätselhaft offen bleiben.

Die Protesthandlung der Mutter im zweiten Abschnitt ist nicht nur zu verstehen als gekränkte Reaktion auf die Provokation der Tochter. Dann hätte sie schon im Eskalationsteil einen markanten Schlusspunkt setzen können. Die Mutter reagiert vielmehr gekränkt auf die Mitteilung der Tochter, die offenbar existenziellen Konsequenzen, die im Herbst zu erwarten seien, gingen die Familie nichts an. Mutter Anna hört aus diesem Satz heraus, dass sie selbst und wahrscheinlich die ganze Familie für die Tochter nicht mehr so wichtig ist, wie sie sich das wünscht und wie es ihrer Beziehungsdefinition des Familiengefüges entspricht. Die Tochter hat sich der Familie anscheinend so entfremdet, dass Vater und Mutter ihre wirklichen Probleme nicht kennen. Und an diesem Punkt könnte die Mutter, im Berufsleben erfolgreiche Maklerin und daran gewöhnt, Konfliktsituationen zu beherrschen, auf ihr eigenes Versagen in der Familie stoßen. Kränkung und Selbstzweifel kommen zusammen und lösen die Türen knallende Schlussreaktion der Mutter aus, den lautstarken Abbruch der familiären Kommunikation, nach dem es nur noch eisiges Schweigen gibt.

Mutter Anna will am Anfang der Mittagstisch-Kommunikation mit ihrem Gesicht-Satz die verkrampfte Situation entspannen. Das ist ihre Intention, und diesen Wunsch drückt sie aus ihrer Sicht auch aus. Bei Julia kommt jedoch eine Botschaft an, die unter dem Einfluss der Frust-Randbedingungen das exakte Gegenteil bewirkt. Vielleicht will die Mutter die verbliebene Restfamilie nach dem Auszug der beiden ältesten Töchter Rosa und Magda zusammenschweißen; doch ihr Dialog-Eröffnungszug fördert eher den Zerfall.