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Fanfare zum Aufbruch

Werther - Rebellion der Genialität      

Von Heinz-Joachim Gärtner

 

Goethe baut Werther auf, und dann nimmt er ihn auseinander. Am Romanende schlachtet er ihn brutal ab. Werther muss sterben, damit Goethe leben kann. Liebt Werther zu intensiv? Muss man ihn deshalb hassen? Goethes tragische Romanfigur, die in einer Serie von Briefen dermaßen an der Liebe leidet, dass es uns das  Herz zerreißt, ist alles andere als ein Don Juan. Seine Verführungskünste sind eher bescheiden. Er versteht sich auch nicht als Verführer, sondern als Künstler. Und dabei wirkt er als Maler so Mitleid erregend unproduktiv.

Werthers Auffassung von Kunst wird im Brief vom 26. Mai, zweiter Absatz, deutlich. Im Rahmen einer kleinen ästhetischen Theorie, die gerade mal einen Briefbogen umspannt, bringt er die Begriffe Gesellschaft, Natur, Kunst, Regel und Genie in ein spannungsreiches Verhältnis. Noch ist Werthers Seelenleben intakt. „Man kann zum Vorteile der Regeln viel sagen, ungefähr was man zum Lobe der bürgerlichen Gesellschaft sagen kann… Dagegen wird aber auch alle Regel, man rede, was man wolle, das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruck derselben zerstören.“

Werther erkennt die Notwendigkeit und Produktivität von Regeln für ein geordnetes Zusammenleben der Menschen und auch für die Verstehbarkeit von Kunst an. Nur reicht ihm dies nicht aus für große Kunst und das wahre Leben, das sich in der Liebe austobt.  Die Regel muss gebrochen, die Liebe muss leidenschaftlich werden. Kunst und Leben werden mit dem Regelbruch unvermeidlich exzessiv. Der Durchschnittsbürger hält dieses spannungsreiche Leben und diese zügellose Kunst nicht aus, doch der „Strom des Genies“ (gleicher Brief, zweiter Absatz, Schlusspassage) braucht Grenzverletzungen, um nicht zu versiegen. Also hat der Künstler, wenn er Genie sein will, nicht nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht, die Beschränkungen der Alltäglichkeit hinter sich zu lassen. Und genau diese Leistung erwartet die Gesellschaft von Kunst. Deshalb könnte Werther, der Künstler, anerkanntes Mitglied der Gesellschaft werden. Er könnte dort seine Nische finden.

Liebe basiert nach Werthers Verständnis auf  dem gleichen Regelbruch wie die Kunst. Werther zitiert die herrschende Auffassung, um seinen Begriff von Liebe dagegen abzugrenzen: „Feiner junger Herr. Lieben ist menschlich, nur müsst Ihr menschlich lieben. Teilet Eure Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden widmet Eurem Mädchen…“ (Brief vom 26. Mai, zweiter Absatz, letztes Drittel). Das aber sagt „ein Philister“ (gleiche Stelle). Im Ausdruck „Philister“ steckt eine Ablehnung. „Menschlich lieben“ in einem aufgeklärten, von Vernunft geprägten bürgerlichen Verständnis erscheint Werther nicht gefühlsintensiv genug. „Teilet Eure Stunden ein“: Diese vernünftige Empfehlung, Zeitressourcen unter Kontrolle zu bringen und konstruktiv aufzuteilen, wird von der Leidenschaft aufgefressen, die ihre eigenen Prioritäten setzt und weder in der Kunst noch in der Liebe die Relativierung oder Unterordnung des vermeintlich Allerwichtigsten zulässt. Werther geißelt den Vernunftbegriff von Liebe als „philiströs“, also selbstgerecht und überheblich gegenüber denen, die den Anziehungskräften der Sünde nicht widerstehen und darin mehr Menschlichkeit und Adel der Gefühle verkörpern als die „Philister“. Mit „Philister“ meint Werther exakt das, was heutzutage als „spießig“ bezeichnet wird. Kunst und Liebe brauchen in Werthers romantischem Naturbegriff Leidenschaft und Grenzüberschreitung. So empfiehlt er den „Philistern“, also den heutigen Spießern, im Schlusssatz dieses Maibriefes, ihre „Gartenhäuschen, Tulpenbeete und Krautfelder“ zu pflegen, aber von der wahren, leidenschaftlichen Liebe die Finger zu lassen.

Was soll das heißen? Kunst braucht wie Liebe das Prinzip der Regelverletzung, Grenzüberschreitung. Sie muss die überkommenen Vorstellungen durchbrechen und der wahren Natur gegen die Konvention  der jeweiligen Gegenwart  zum Sieg verhelfen. Dabei könnte eine neue Moral entstehen. Kunst und Liebe werden damit zum Ausdruck einer individuellen Rebellion gegen das, was die Gesellschaft vom Individuum erwartet: dass es sich gefälligst anständig und gesittet aufführe.

In welchem Genre könnte Werther nun ein erfolgreicher Künstler sein, ein Vorkämpfer für die Vision eines Lebens frei von spießigen Beschränkungen ?

Als Werther versucht, Lotte zu portraitieren, scheitert er. Was herauskommt, ist lediglich ein Schattenriss. Es gelingt ihm nicht, den für das Entstehen eines Kunstwerkes notwendigen kritischen Abstand zu seinen Gefühlen zu gewinnen. „Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken“ (Brief vom 10. Mai, erstes Drittel). Werther „verkauft“ dem Briefpartner Wilhelm den Tiefpunkt seiner Produktivität voller Inbrunst als  Gipfel seines Genies. Ironisch zeigt Goethe mit diesem Paradoxon auf, welche Nullnummer Werther als Maler ist.

Aber Werther kann fantastisch schreiben: Das beweisen seine fiktiven Briefe an eben jenen Wilhelm. Sein übersprudelndes Gefühlsleben macht Werther literarisch enorm produktiv. An diesem Punkt wird die Beziehung zum Romanautor unübersehbar. Goethe ist Werther, umgewendet in ein Erfolgskonzept. Goethe verwandelt seine Krise durch literarische Leistung in persönlichen Erfolg, gesellschaftliche Anerkennung und unsterblichen Dichterruhm. Werthers wirkliche Chance ist nicht das Malen, sondern die Schriftstellerei!

Werther kann mit seinem exzessiven Gefühlsleben und seiner radikalen Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft sowie seiner Anbetung des Naturprinzips –  eine Haltung quasi-religiöser Verehrung – als ideale Verkörperung des Sturm-und-Drang-Kunstbegriffs gelten.

Ist Goethes Roman ein Plädoyer für Sturm und Drang? Nein, Goethes fiktiver Agent, der Verleger-Erzähler, gibt sich im Roman und darum herum alle Mühe, für sich und den Leser Abstand zum Werther-Evangelium  zu gewinnen. Am Schluss schlachtet er die Hauptfigur geradezu mit der brutal-exakten Schilderung eines Sterbens, das einer Exekution mit der Feder gleichkommt. „Über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben. Man ließ ihm zum Überfluss eine Ader am Arme, das Blut lief, er holte noch immer Atem“ (abschließender Erzählerbericht, 5. Absatz vor dem Romanende). Werther stirbt wenig romantisch: Er röchelt sich aus dem Leben. 12 Stunden lang wälzt er sich in seinem Blut. Ein Schauspiel, so grausam wie entwürdigend. Da erscheint es nur konsequent, dem „armen Werther“ selbst nach dem Tod einen Platz in der Gemeinschaft zu versagen: Kein Geistlicher hat ihn begleitet (Schlusssatz). Eine zynische Pointe: Das heißt doch im Kontext der damaligen Zeit, der Selbstmörder Werther muss ohne jeden menschlichen und priesterlichen Beistand vor den höchsten Richter treten, um dort nach den Regeln der Religion zu ewiger Verdammnis abgeurteilt zu werden. Werther stirbt im Jenseits noch einmal.

Gelingt Goethe mit diesem „Doppelmord“ die beabsichtigte Distanzierung? Nein. Seine atemberaubende Technik intimen Erzählens, seine suggestive Sprache, also sein eigenes Genie macht dem verantwortungsbewussten Bürger Goethe einen Strich durch die Rechnung. Seine Mahnung, seine Warnung, seine Selbsttherapie verwandeln sich in den starken Impuls für ein neues geistiges Zeitalter. Goethes Roman wird von einer  jungen Generation gewissermaßen gegen den Strich gebürstet und so verstanden, wie der Autor das vielleicht gar nicht wollte: als Fanfare zum Aufbruch in den Sturm und Drang.