Maria Bätge:

Das System Wunsiedel

In der Kurzgeschichte "Es wird etwas geschehen" von Heinrich Böll geht es um die Konfrontation zweier Welten. Die Hauptfigur, ein der Muße und Nachdenklickeit zugeneigter Mensch, trifft auf ein Unternehmen, das den Arbeitsfleiß seiner Beschäftigten auf die Spitze treibt. Bezeichnender Weise ist die Firma ganz aus Glasziegeln gebaut. Alles in der Fabrik soll sichtbar sein, die Arbeit des Betriebes wird zur Schau gestellt. Mit zahlreichen ironischen Stilmitteln unterfüttert Böll seine Satire auf das System Wunsiedel, in dem die Beschäftigten mit schier übermensch- lichen Leistungsanforderungen konfrontiert werden. Mehr noch: Sie scheinen diese von sich aus und freiwillig zu erbringen. Der hohe Anspruch prägt alle Betriebsteile und drückt sich selbst in der Kantine noch aus, in der Kellnerinnen servieren, die vor Fröhlichkeit "fast zu platzen schienen". Der Geist des Hauses wirkt sich aus bis auf die Goldfische, die ihre "blasierten Gesichter" gegen die Wände hellgrüner Aquarien drücken. Luxus-Aquarium und Betrieb korrespondieren in ihrer gleichartigen Transparenz; auch die Fabrik ist aus Glas und hat grün getönte Wände. Die aufgeblasene Miene der Fische spiegelt das menschliche Gegenbild: das Selbstbewusstein und den Stolz derjenigen, die sich mit ihrer Firma grenzenlos identifizieren und alles für sie geben.

Doch die Betriebsamkeit des zur Besinnungslosigkeit getriebenen Arbeitsfleißes hat einen entscheidenden Fehler, auf den der Erzähler mit einem Feuerwerk ironischer Spitzen hinweist. In Wunsiedels Fabrik ist nur wichtig, dass alles so scheint, als würde gearbeitet, dass es so scheint, als würde gehandelt. Konsequenter Weise wird der größte Schaumschläger unter den Bewerbern an die Kontaktstelle zur Außenwelt gesetzt. Weil er angibt, 13 Telefone auf einmal bedienen zu können.

In einer satirischen Wortschöpfung kennzeichnet der Erzähler die Wunsiedel-Aktivisten als "handlungsstarke Persönlichkeiten", die eine unglaublich hektische Betriebsamkeit zu entfalten scheinen, in Wahrheit jedoch nur wild mit Phrasen um sich werfen. Diese sinnentleerten Redewendungen spiegeln den wirklichen Leerlauf im Betrieb wider, in dem sich die Beschäftigten gegenseitig auf Trab halten, ohne etwas wirklich Wichtiges hervorzubringen:

"Es muss etwas geschehen."

Die Führungskräfte des Systems Wunsiedel scheinen nur zu leben, um einen eindrucksvollen Lebenslauf zu produzieren. "Man braucht nur auf einen Knopf zu drücken" - und schon "erbrechen" sie ihren Lebenslauf. Die Assoziation der Wirkungsweise einer Maschine weist auf das Mechanische, Automatisierte dieser Verhaltensweise hin. Ihre ganze Energie verwenden sie darauf, daran zu denken, dass gehandelt werden muss. Die Vorreiterrolle übernimmt der Firmenchef: "Die belangloseste Tätigkeit sah bei Wunsiedel wie eine Handlung aus..."

Ein Unternehmen, in dem Arbeitsfleiß derart verabsolutiert wird, muss gewaltig produktiv sein, sollte man denken. Tatsächlich aber kommt es im System Wunsiedel auf den Output gar nicht an. Es geht vielmehr darum, das Produkt aufwendig zu verwalten. Satirische Spitze: Am Ende gesteht der Erzähler ein, sich für die Früchte seines grenzenlosen Arbeitsfleißes nie interessiert zu haben. Es wird wohl Seife gewesen sein, vermutet er. Ein Konsumgut also, dass sich beim Gebrauch verflüchtigt.

Der Autor der Geschichte belässt es nicht bei dieser ironischen Spitze. Der überraschende Tod des Firmenchefs zeigt, dass die Realität die Seifenblase entfesselter Scheinproduktivität am Ende zum Platzen bringt. Wer sich vom System Wunsiedel überwältigen lässt, muss irgendwann so oder ähnlich bezahlen wie der Firmenchef.

Der Tod des Chefs bricht der Realität Bahn. Es ist nur konsequent, dass der zur Nachdenklichkeit neigende Erzähler die Firma verlässt und damit jene Sphäre, in der sich die Menschen in einer Scheinwelt verlieren. Dabei gewinnt er eine Beschäftigung, die seiner kontemplativen Natur eher zu entsprechen scheint. Muße und Nachdenklichkeit sind gefragt in einem Job, bei dem es darauf ankommt Trauer darzustellen. Von der aufgesetzten Fröhlichkeit des Systems Wunsiedel zum Trauerkult des Unternehmens Beerdigung: Böll entlarvt auch die Gegenwelt zu Wunsiedels Fröhlichkeitskultur als Fabrikation des falschen Scheins. Er kritisiert mit seiner "handlungsstarken Geschichte" eine Gesellschaft, deren Mitglieder nur darauf bedacht sind einen starken Eindruck auf andere zu machen und dabei ihr eigenes Leben verpassen.